Dies Secuta - Die Vorlage

Es begann als die Große Bombe fiel und die Menschheit starb. Riesige Feuerwalzen planierten den Grund und rissen alles mit sich, was da lebte, in den Tod. Niemand sah es voraus, niemand sah es kommen.

Doch nicht alle Menschen verbrannten in dem Inferno, das die Welt verschlang. Es gab Überlebende, vielleicht ein paar Tausend, in den Geschichtsbüchern der neuen Welt als die „Abkömmlinge der alten Rasse“ bekannt. Ihre Gesichter waren von Verzweiflung und Hilflosigkeit gezeichnet, als sie sahen, was vor ihnen lag. Die Erde hatte sich in eine Einöde verwandelt. Was einst grüne Pflanzen waren, war jetzt nur noch Asche. Wo einst Städte standen, lagen jetzt nur noch Trümmer. Wo einst ein strahlend blauer Himmel sich befand, regierte jetzt nur noch eine einzige dunkle, undurchdringliche Wolke. Was einst vom Leben sang, schwieg jetzt.

Ich habe die alte Welt nie gesehen. Seit der apokalyptischen Katastrophe sind nun mehr als fünfhundert Jahre vergangen. Die Menschheit hat sich verändert.

Wie aus dem Nichts tauchte damals die Firma „Life Existenz“ auf. Sie versprach den Menschen ein besseres Leben und eine unbeschwerte Zukunft. Natürlich glaubte man diesen Engeln in weiß. Nur fragte man sich damals nie, warum diese Corporation of Technology mitsamt ihrer ganzen Belegschaft den Untergang überlebt hatte. Ihr Konzept war simpel und leicht zu begreifen. Zuerst wurden Milliarden von Reihenbauten aus Beton aus dem Boden gestampft. Obwohl unklar war, wieso es so viele sein mussten und wo die Rohstoffe dafür herkamen, stellte Niemand unbequeme Fragen, die den „Wiederaufbau“ nur blockiert hätten. Jeder tat sein bestes, alle packten mit an. Nachdem es vollbracht war stellte „Life Existenz“ sein neues Unterhaltungsprogramm vor: eine Mischung aus Komfort und Virtual Reality, genannt „New Life“. Sie versprachen für jede Person die Möglichkeit, sich ihr eigenes, individuelles Programm zusammenstellen zu können. Dabei wäre es ganz egal, ob man nun Superheld, Massenmörder, Spießbürger mit Familie oder sonst etwas sein wollte. Die Software sollte auch eine der realistischsten Sexsimulationen beinhalten, was wohl letztendlich der ausschlaggebende Punkt für die absolute Totalität des Produktes auf dem Markt, wenn man ihn so nennen kann, führte. Durch bloße Benutzung der Gedanken sollte jedes beliebige Erlebnis zugänglich werden. Es sollte keine Grenzen geben. Alles war möglich. Grundlage dafür stellten Erfahrungen der Medientechnologie des vergangenen Zeitalters. Die Menschen nahmen es widerspruchslos an.

Heute gibt es nur noch sehr wenige, die keine „New Life“ – Konsole besitzen. Ich bin einer von diesen. Die Straßen sind leer. Die Luft ist kalt.

Die Menschen sitzen alle zu Hause auf ihrer Couch in ihrer neun Quadratmeter Wohnung in einem der Milliarden uniformen Wohnblocks. Sie sind allein, aber das stört sie nicht. Sie wissen nicht, was sie herum geschieht, aber das stört sie nicht. Sie haben keine Probleme mehr, dafür hat das göttliche „Life Existenz“ bestens gesorgt. Man muss nur noch sitzen und sich unterhalten lassen. Man braucht sich auch keine Sorgen mehr um die Nahrungsaufnahme zu machen. Es werden einfach kleine Haken durch die Unter- und Oberlippe gezogen, damit der Mund sich nicht schließen kann. Die Fäden an den Metallinstrumenten werden an einer, im Hinterkopf eingelassenen Schraube zusammengeführt und gestrafft. Dann wird bloß noch ein Schlauch in die Speiseröhre eingeführt (dieser wird ebenfalls mit Haken, die sich in die Kieferknochen bohren, fixiert) und der natürliche Schluckreflex tut sein übriges und befördert die breiähnliche Masse in den Magen. Ausscheidungsprodukte werden schon lange nicht mehr über sanitäre Anlagen abgegeben. Dafür gibt es auch Schläuche, die an den Geschlechtsorganen und am Anus installiert werden und so Exkremente und Urin in das Abwassersystem abführen. Doch die Kanalisation mündet schon seit 50 Jahren in die Lebensmittelproduktion von „Life Existenz“. Die Menschen fressen ihre eigene Scheiße und merken es nicht einmal. Die virtuelle Welt von „New Life“ wird ermöglicht durch die kostenlose Implantation eines einzigen Mikrochips in das Großhirn des Patienten. Hinzufügend wird das linke Auge noch erblindet und die Hornhaut des rechten entfernt, um diese durch einen dünnen Film, der als Leinwand dient, zu ersetzten. Die oberen und unteren Lider müssen wiederum mit Haken auseinander gezogen und gestreckt werden. Diese Erkenntnis kam aber erst später zum Programm hinzu. Vorher, als es die Spannvorrichtung am Auge noch nicht gab, konnte das ständige Öffnen und Schließen des Augenlides zu einem Kurzschluss in den Schaltkreisen des Miniaturbildschirmes führen und den Benutzern wurde buchstäblich der Kopf von den Schultern gerissen. Als man diese Unannehmlichkeit aus der Welt geschafft hatte, konnte sich „Life Existenz“ um die Wiederherstellung der Bevölkerung kümmern. Kinder entstehen nun ebenfalls nicht mehr auf dem, von der Natur ursprünglich gewolltem Wege. Durch die Schläuche an den Geschlechtsteilen werden den Männern die Spermazellen und den Frauen die Eizellen entzogen. Mit Hilfe eines Parallelsystems gelangen die Gameten in einen so genannten Geburtentrakt, in dem sie zur Befruchtung unter dem Mikroskop gebracht werden. Sind die Neugeborenen dann von M.U.M. (Mechanical Umbilical Machine) entlassen worden, wird ihnen, wenn sie das erste Lebensjahr erreicht haben, eine überholte Version von „New Life“, genannt „FCG“ (From the Cradle to the Grave) eingepflanzt. Diese Adaption erlaubt es dem User, sein ganzes Leben mit „Life Existenz“ zu verbringen, da die Schnüre an den Haken die Eigenschaft haben, sich mit dem Heranwachsen des Schädels zu verlängern. Bei vielen der, in den letzten Monaten geborenen, Kindern fällt auf, dass sich die Evolution langsam aber sicher an die neuen Gegebenheiten anpasst: das linke Auge ist bei einigen schon gar nicht mehr des Sehens fähig und die Zunge und Sprechmuskulatur bilden sich allmählich zurück, da zwischenmenschliche, soziale Kommunikation der Vergangenheit angehört. Was nicht mehr gebraucht wird, verkümmert. Dieses Phänomen der Selektion wird auch an Armen und Beinen erwartet.

Ja, die Corporation of Technology, welche Gott allem Anschein nach am achten Tage schuf, hält, was sie einst versprach. Entertainment rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr.

Der Widerstand gegen „Life Existenz“ zerfällt, wie die Geschöpfe, die es konsumieren. Ich bin der Widerstand. Ich war die Zukunft für diese Gegenwart. Und ich weiß, wann ich verloren habe. Ich weiß, dass ich verloren habe. Ich war nicht im Stande, den Kampf allein zu bestreiten. Nun sitz ich hier in einer Zelle und warte mit dem liber afflicationum auf dem Schoß auf das Ende. Es ist das einzige Schriftstück, das die große Katastrophe überstanden und die Jahre überdauert hat. Die Prophezeiung erfüllt sich. Ich höre sie kommen. Sie nennen sich Engel, doch das sind sie nicht. Es waren einmal Menschen, bis „Life Existenz“ ihre Gene manipulierte und sie zu hirnlosen Arbeitstieren umprogrammierte. Nun sind es lebende Tote. Sie haben keinen eigenen Willen und keine eigene Meinung. Ihr einziger Sinn besteht darin, den Prozess am laufen zu halten.

Sie kommen. Sie kommen, mich zu holen. Sie werden mich zu einem User machen. Ich höre ihre schweren Schritte. Ein Magnetstreifen verschwindet in einem Kartenleser. Sie öffnen die Tür…

 

Ende

 

 (Verfasst 2005 von Victor Gabriel)